Putins Krieg in der Ukraine setzt einen Schlusspunkt unter das Demokratie-Experiment der Jeltsin-Ära. Ein Brain Drain beginnt, Verbindungen werden gekappt. Es ist anzunehmen, dass dieser Aderlass das Land über Generationen hinaus zurückwerfen. Russlands High Potentials sind europäisch sozialisiert. Sie gelten als antinationalistischer Gegenentwurf zum Russland des Diktators. Und sie sind im In- wie im Ausland Opfer der Machthaber.

Autor

Sofiya Andryunicheva

Foto

Köln, Ritterstraße, ca. 1947: Hermann Claasen: ©LVR-LandesMuseum Bonn

Datum

28. Februar 2022

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Jetzt da die defekte russische „Demokratie“ auf der Liste der Pariastaaten steht, stellt sich die Frage, ob ausgrenzende Stereotype Oberhand gewinnen und Russen im Westen stigmatisiert werden wie es Deutsche nach Ende des 2. Weltkrieg erfahren mussten. Auf einer Rede in München wenige Stunden nach Kriegsbeginn wird deutlich, dass die Generation „Ostland“ nicht gewillt ist, als Kollateralschaden und Projektionsfläche herzuhalten.

Am Tag de Angriffs, an jenem schicksalhaften 24. Februar 2022, als der russische Diktator die neue Weltordnung in den Boden stampft, verliert eine ganze russische Generation Zukunft ihren Kampf um einen zivilisatorischen Systemwandel im Riesenreich.

Was für ein alter weißer Mann. Der Despot ist geblendet von seinen Claqueuren, seinen Speichelleckern, seiner Propaganda. Westlichen Medien halten in den Stunden nach dem Angriff in Moskau auf die Putin-Versteher drauf, die Babuschka, den Nationalisten. So stereotyp, so erwartbar. Das gehört zur Dramaturgie. In den Stunden des Schocks haben es Zwischentöne schwer.

Das mediale Zerrbild blendet aus, dass dort im Kreml beginnend mit den Schauprozessen von Chodorkowski 2003, Pussy Riot 2012 und spätestens der Krim-Annexion 2014 die Aristokratie der Sowjet- und Zarenzeit, ein Wiedergänger ist. Es ist diese alte Hierarchen-Nomenklatura, bestehend aus Oligarchen, Militär, Justiz, Geheimdienst, Beamtenschaft und Apparatschiks, die an diesem Tag die Lebensentwürfe einer weltoffenen jungen Generation mit ihren Panzern und Raktetenwerfern in Schutt und Asche legt – im eigenen Land und außerhalb. Dort hat sich seit den Zehnerjahren eine Art Ostland mit Russen, Ukrainern, Kasachen und Weißrussen ausgebildet. Mit den Putin-hörigen Deutschrussen der Wendejahre haben diese Menschen nichts zu tun.

Weitgehend unter dem Radar der bundesrepublikanischen Wahrnehmung lebt die aus Osteuropa nach Deutschland eingewanderte Generation Instagram längst in einer neuen gemeinschaftlichen Realität. Es ist eine Realität ohne die Phantomschmerzen der ersten Generation, die sich nie für eine Kultur entscheiden konnte. Es ist eine Realität in Freiheit ohne Repressionen, die als Gegenentwurf zu Wladimir Putins Zarenreich 2.0 verstanden werden kann.

Am 24. Februar zerstiebt dieses Lebensgefühl. Und es ist offen, ob die neue antinationalistische Realität die Wunden dieses Angriffskrieges überdauern kann. Wohl jeder in Europa mit etwas Geschichtssensibilität hat in diesen Stunden die ikonographischen Bilder zerstörter Städte wie Köln im 2. Weltkrieg vor Augen. Nur dass dieses Mal ein Stalin-Bewunderer der Aggressor ist.

Der Kriegsbeginn ist ein Tag der sprachlos macht. Die Dimension der Ungeheuerlichkeit ist so groß, dass eine Lähmung um sich greift. Es gilt Gesicht zu zeigen, den Kollateralschaden abzuwenden, sich abzugrenzen von den Putin-Verstehern unter den russlanddeutschen Auswanderern, die unter dem Einfluss des Propagandakanals RT nie in der deutschen Gesellschaft angekommen sind.

Spontan gibt es wenige Stunden nach Kriegsbeginn erste Demonstrationen gegen die russische Aggression – Russen vornean. Ein kleiner Beitrag, aber dennoch ein historisches Zeugnis, meint die Redaktion. Die Redebeiträge sind gezeichnet von Sprachlosigkeit, Unbeholfenheit, Entsetzen, Wut. Treffende Analysen sind es noch nicht, was aber mitschwingt, ist die Ohnmacht von Russinnen und Russen in Deutschland in Sippenhaft für die Taten der Kriegsherren im Kreml genommen zu werden. Gleichwohl werden diese Stimmen im neuen Kalten Krieg mit seinem Kampf um die Weltordnung für Analyse und Strategie künftig wichtig sein.

- die Redaktion / ken -

Es sind schon mehrere Jahre, in denen ich aufwache und absolut nicht stolz darauf bin, wo ich herkomme. Jedesmal wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme, schweige ich eine halbe Sekunde und überlege mir, ob ich das gerne sage oder mir etwas ausdenke. Heutzutage, wenn Du in Russland geboren bist, in einer russischen Stadt, fühlst Du Dich beschämt. Wirklich beschämt.

Heute bin ich um sechs Uhr morgens aufgewacht. Ich bin aufgewacht und hatte das Gefühl, irgendwas stimmt nicht. Irgendwas ist besonders unruhig. Ich habe mein Handy genommen, ich habe die Nachrichten geöffnet und habe gesehen, dass mein Land, wo ich geboren bin, wo meine Eltern und meine ganze Familie wohnen, einen Krieg angefangen hat. Und das allerschlimmste war, dass jeder einzelne Russe, den ich kenne, jeder einzelne Russe, mit dem ich in Kontakt bin, genau den gleichen Schock spürte wie ich.

Es war genau die gleiche Trauer, genau der gleiche Schmerz. Keiner hat es erwartet. Keiner hat es sich gewünscht. Keiner dachte, dass es wirklich passiert.

Deswegen sind wir alle heute hier. Viele, viele Freunde von mir, die aus Russland kommen. Viele, viele Freunde von mir, die aus der Ukraine kommen, die aus Kasachstan kommen, die aus Belarus kommen. Alle sind heute hier, um zu zeigen, dass dieser Krieg kein Menschenkrieg ist. Es sind nicht die Menschen, es sind nicht „die Russen“, die diesen Krieg angefangen haben. Es sind nur die paar alten, nicht gesunden Männer, die in der russischen Regierung sitzen und die offenbar viel zu viel Zeit haben und Geld.

Ich wünsche mir, dass wir alle es verstehen, dass wir alle zusammen kommen, alle Russen, alle Ukrainer, alle, die diesen Schmerz über das, was 2022 passiert in Europa, teilen und alle dagegen kämpfen. Und ich bin mir sicher, dass, wenn wir nicht nur einmal heute aus Wut hier stehen, sondern jeden Tag darüber reden, jeden Tag irgendwas dagegen tun, jeden Tag miteinander sprechen, jeden Tag einander daran erinnern, dass wir keine Feinde sind, sondern dass wir in dieser Situation zusammen stehen. Schaffen wir es, wieder in Peace zu leben und wieder…

Wobei, „wieder“ wird es nicht geben, es wird nie wieder so sein, wie es war – aber ich hoffe, wir schaffen es, einen neuen, freundlichen Peace zu schaffen. Ich hoffe, wir schaffen, dass ein einziger Mann, der für diese Frechheit verantwortlich ist, verschwindet. Ich hoffe irgendwann in der näheren Zukunft wird dieserMann nichts mehr mit unserem Leben zu tun haben.

Ich werde wieder fähig sein, all meinen Freunden aus der Ukraine wieder in die Augen schauen zu können und mich wohl fühlen und nicht beschämt.

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