Die Schreckensbilder von Bergamo in Italien gehören zu den ikonischsten der Corona-Pandemie: Die zu Leichenwagen umfunktionierten Militärtransportern haben sich ins europäische Gedächtnis eingraviert. Als im Winter 2021 die Delta genannte Variante des Corona-Virus ihren Höhepunkt erreicht, droht auch Deutschland das Szenario der Triage: Wer stirbt, wer wird gerettet? Es fehlt an Betten. Ddas Bild vom Organisationsweltmeister Deutschland bekommt Risse. Es stellt sich die Frage, wer ist schuld an falscher Planung? Hat die Regierung falsch geplant, die Gesundheitsbürokratie verzögert oder liegt es am Ende an fehlendem Gemeinsinn?

Autor

Katrin von Philipp

Agentur: Sammlung/Serie: Fotograf: Bildtitel

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Datum

11. Februar 2022

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Katrin von Philipp

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Tennis: Milen Radev, Radierung, 1984: SLUB Dreseden: Deutsche Fotothek

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11. Februar 2022

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Wenn meine Arbeit am Rechner keine große Konzentration erfordert, höre ich nebenbei oft Nachrichten oder Podcasts. Auf dem Höhepunkt der Pandemie im Dezember 2021 sehe ich einen Beitrag, in dem es um kritisches Denken geht. Darin bin ich doch ohnehin schon gut, denke ich, nehme mir aber vor, in Zukunft einige Regeln im Hinterkopf zu behalten:

  1. Eine Annahme muss faktisch oder logisch begründet sein
  2. Eine These muss belegt werden
  3. Eine These muss Widerlegungsversuchen standhalten
  4. Hänge nicht an deinen Thesen
  5. Suche nach Messbarem, dass deine These untermauert

Am nächsten Tag lasse ich nebenbei Nachrichtensendungen in Youtube-Endlosschleife laufen. Als der Tonfall sich verdächtig in Richtung Polemik ändert, schaue ich nach, welche Sendung gerade an der Reihe ist. Es ist Bild TV. Reflexartig klicke ich beinahe den Beitrag weg, als die These eines Bild-Redakteurs meine Aufmerksamkeit fesselt: Der seit langem bestehende Pflegekräftemangel und die unzureichende Ausrüstung der Kliniken – beides Missstände, die die Regierung zu verantworten habe – sei für die triage-artigen Zustände auf den Intensivstationen verantwortlich. Die vierte Welle hat zu dieser Zeit gerade ihren Höhepunkt erreicht. Es heißt im Beitrag, die Politik versuche nun, ihr Versagen durch eine Impfpflicht zu kaschieren, auf Kosten ungeimpfter Bürger, die nun obendrein als Sündenbock herhalten müssten.

Zunächst ärgere ich mich über diese zynische Verdrehung von Tatsachen. Rechtspopulismus. Gatekeeping, ganz klar. Doch dann erinnere ich mich an meine Vorsätze. Als kritischer Mensch soll ich doch immer zuerst versuchen, eine Annahme zu belegen oder zu widerlegen. Es kostet mich einige Überwindung, den Gedanken des Bild-Redakteurs zu Ende zu denken:

Angenommen, das Bundesgesundheitsministerium hätte rechtzeitig ausreichend hohe Beträge in den Pflegesektor investiert, dann gäbe es zum jetzigen Zeitpunkt womöglich mehr Intensivbetten, höhere Gehälter für Pflegekräfte, verbesserte Arbeitsbedingungen – und die Triage wäre kein drohendes Szenario.

Suche nach dem Sündenbock #1: Jens Spahn und sein Ministerium

Aber: Wären die Kliniken besser vorbereitet gewesen, hätte das nichts an der Anzahl schwerer Verläufe geändert, räsoniere ich weiter. Unumstritten ist, dass die Summe der Patienten mit schweren Krankheitsverläufen nur durch eine höhere Impfquote hätte vermindert werden können. Das hat Bild offenbar „vergessen“.

Auf der anderen Seite hat es natürlich sehr wohl Konsequenzen, dass sich die Regierung im Vorfeld nicht ausreichend um die Missstände in den Kliniken gekümmert hat: Während der Delta-Welle mussten immer wieder Patienten verlegt werden, da in manchen Klinken auf den Intensivstationen keine Betten mehr frei waren. Aufgrund längerer Krankentransporte verloren schwerkranke Menschen wertvolle Zeit. Zudem mussten lebensrettende Operationen verschoben werden.

Hätten diese Patienten nicht bessere Chancen gehabt, wenn die Regierung rechtzeitig Vorkehrungen getroffen hätte? Zahlreiche Dokumentationen in den Medien belegen die prekären Zustände. Zustände, die am Ende auf das Konto der Regierung Merkel gehen? Hatte Bild in seinem Urteil über das Krisenmanagement der Regierung Merkel also teilweise recht?

Das wäre ein schwerer Vorwurf an Spahn. Hier geht es um die Vernachlässigung einer moralischen Pflicht. Der Begriff „moralische Pflicht“ kommt mir irgendwie vertraut vor.

Es ist dieselbe vieldiskutierte „moralische Pflicht“, die uns vulnerable Gruppen schützen lässt. Die uns dazu bringt, die Maßnahmen einzuhalten und uns impfen zu lassen. Und was Ungeimpften vorgeworfen wird, ist die Vernachlässigung eben dieser Pflicht.

Meine Perspektive verschiebt sich für einen kurzen Moment: Welche moralische Pflicht hat eine Regierung?

Für mich beunruhigend ist, dass ich eine mögliche Verantwortung der Regierung nie in Betracht gezogen hätte, würde mich die „Gegenseite“ in Gestalt eines Bildredakteurs nicht darauf aufmerksam gemacht haben. Habe ich es mir auf einer bestimmten Seite zu bequem gemacht? Immerhin auf der richtigen, der vernünftigen, fiel mir ein. Aber habe ich dadurch Argumente übersehen?

Verschwundene Betten – ein kafkaesker Datensalat

Am nächsten Tag suche ich „nach Messbarem“. Ich finde einen Artikel der Tagesschau vom Sommer 2021. Überraschenderweise rangiert zu dieserZeit Deutschland bei Intensivbetten pro 100.000 Einwohner schon vor der Pandemie weltweit unter den Spitzenreitern: Deutschland 34 Betten, USA 17, Frankreich 16. Und dennoch initiiert das deutsche Bundesgesundheitsministerium zu Beginn der Pandemie 2020 ein Förderprogramm, das jeder Klinik zusätzlich 50.000 Euro für die Einrichtung von noch mehr neuen Intensivbetten zuweist. Lediglich ein Zuschuss, wenn man geschätzte Kosten von bis zu 135.000 Euro pro Bett betrachtet – ohne Personal. Insgesamt sollen so 686 Millionen Euro an die Kliniken verteilt werden, aus dem Gesundheitsfonds der Gesetzlichen Krankenkassen, rechnet die Tagesschau vor. Damit müsste es theoretisch rund 13.700 neue Intensivbetten geben – zusätzlich zu den 28.000 schon vorhandenen. Wo diese Betten seit Juli 2020 stehen. ist für den Bundesrechnungshof zu diesem Zeitpunkt allerdings ein Rätsel.

Mit den verschwundenen Betten und dem Bericht des Bundesrechnungshofs im April 2021 kommt Kritik gegen Gesundheitsminister Jens Spahn auf. Der Rechnungshof konstatiert, dass Spahn und sein Ministerium offenbar nicht in der Lage sind, die Anzahl bereits vorhandener sowie neu angeschaffter Klinikbetten zu ermitteln. Einfache Arithmetik auf Grundschulniveau, sollte man meinen.

Spahns Ministerium reagiert auf den Vorwurf, indem es eine Liste über die Höhe der abgeflossenen Beträge an die einzelnen Krankenhäuser veröffentlicht. Die Frage nach der Verantwortung wird an die Kliniken weitergereicht. Haben diese die Gelder sinnvoll eingesetzt?

Suche nach dem Sündenbock #2: Die Kliniken

Der Vorwurf, Gelder könnten möglicherweise von den Häusern zweckentfremdet worden sein, steht im Raum. Die Kliniken sind nun in der Bringschuld, werden aufgefordert, die aufgestockte Bettenzahl durch Kostenaufstellungen nachzuweisen. Sie retournieren, dass sich die neuen Betten und Geräte in Notfalllagern befinden und Notfallpläne für eine schnelle Inbetriebnahme vorhanden sind.

Zwischendurch schaue ich auf Statista nach, wieviele Betten es momentan in Deutschland gibt. Anfang Januar 2022 sind es 24.972. Das sind deutlich weniger als theoretisch zur Verfügung stehen müssten. Warum ist die Zahl der Betten so stark gesunken?

In der vierten Welle sind die Intensivbetten äußerst knapp, lese ich in einem aktuelleren Artikel. Die Kapazitäten in den Kliniken kommen an ihre Grenzen.

Die Krux liegt im System, das Krankenhäuser anhält, wirtschaftlich zu arbeiten, heißt es: Kliniken bekommen Zuschüsse, wenn die Intensivbetten knapp werden. Hat das etwa die Controller der Hospitäler dazu verführt, die Zahl der Intensivbetten künstlich herunterzurechnen? Bewiesen ist das bis heute nicht.

Aber warum ist die Zahl der Betten während der Pandemie immer weiter gesunken? Mehrere Faktoren sind dafür verantwortlich. Anfangs werden „Notfallbetten“ mitgezählt. Später fallen Notfallbetten in eine andere Kategorie. Als Folge wird ist die Zahl verfügbarer Intensivbetten kleiner.

Es ist ein kafkaeskes Spiel mit diesen Betten. Inzwischen dürfen nur noch betriebsbereite Intensivbetten samt Geräten und Personal in die Statistik aufgenommen werden.

Fällt ein Pfleger wegen Krankheit oder Kündigung aus, fällt übrigens auch ein Intensivbett aus der Statistik heraus. Schwer wiegt zudem, dass an Covid-19 erkrankte Patienten extrem pflegeaufwändig sind. Die Bauchlage und die Beatmung erfordert mehr Personal als andere Intensivpatienten benötigen. Im Schnitt braucht ein Covid-Patient zwei Pflegekräfte. Die Hygienemaßnahmen sind außerdem enorm aufwändig, für das An- und Ausziehen der Schutzkleidung muss man jedes Mal bis zu fünf Minuten einkalkulieren. Und die Monitoringgeräte bei Covid-Patienten schlagen häufig Alarm.

Es ist ein Fakt, dass das Pflegepersonal erschöpft ist und es daher viel mehr Ausfälle und Kündigungen gibt. Intensivpfleger sind zudem hochspezifisch ausgebildet und können bei Ausfällen nicht ohne weiteres von normalen Pflegekräften ersetzt werden.

Suche nach dem Sündenbock # 3: Die Ungeimpften

Ich muss anerkennen, dass das Thema komplexer ist, als gedacht. Es wäre zu einfach, ausschließlich dem Ministerium oder den Kliniken die Schuld für die Überbelastung des Gesundheitssystems in der Delta-Welle zu geben.

Dass andererseits allein die „bösen Ungeimpften“ als Sündenböcke für die kritische Lage herhalten müssen, ist nach meiner Recherche nicht fair. Die Regierung Merkel hatte einen Anteil an den Missständen und muss sich im Nachgang die Verantwortung mit den Impfunwilligen teilen.

Auf den ersten Blick ist zu fragen: Vernachlässigen die Ungeimpften tatsächlich eine moralische Pflicht? Oder wird ihre Entscheidung von Freiheitsrechten legitimiert? Wenn man die Überlastung des Gesundheitssystems außer acht lässt, ist der Fall natürlich sonnenklar: Eine Impfung ist eine persönliche Entscheidung. Jeder kann selbst über seinen Körper bestimmen. In der Medizin gilt eine Behandlung, die gegen den Willen des Patienten erfolgt, als Körperverletzung – sogar dann, wenn sie dem Kranken hilft. Selbstbestimmung ist ein wichtiges Grundrecht, das man respektieren muss.

In Anbetracht einer drohenden Triage aber, die einer menschlichen Katastrophe gleichkommt, darf dieses Grundrecht nicht mehr ins Gewicht fallen, sofern es ein Verhalten rechtfertigt, das den Ausweg aus der Notlage versperrt. Angesichts des Leids von Patienten und deren Angehörigen sowie einer erheblichen Belastung des Pflegepersonals ist die Impfung moralisch verpflichtend – natürlich nur falls sie tatsächlich der einzige Ausweg ist.

Die Entscheidung gegen eine Impfung wirkt in so einer Situation egozentrisch und unethisch. Aber ein Grundrecht verschwindet nicht einfach – einen Rest an Legitimation muss man den Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten, wohl zugestehen.

Und je mehr ich darüber nachdenke, desto komplizierter wird es: Der Grund für die Ablehnung der Impfung spielt dann natürlich auch noch eine Rolle. Einen panischen „Impfphobiker“ kann man vermutlich entschuldigen ... Und was ist mit einem Fehlinformierten?

Am Ende bleibt die Schuldfrage zu klären: Hat Spahns Gesundheitsministerium einfach nicht akkurat und effektiv gearbeitet, zu wenig Kontrolle ausgeübt und dadurch besagtes Bettenchaos angerichtet? Sicher ist, von niemanden wurde bewusst eine ethische Notwendigkeit ignoriert. Dafür gibt es kein Motiv. Gleiches muss für Kliniken gelten, denen niemand am Ende Profitgier nachgewiesen hat: Im Zweifel für den Angeklagten.

Zu urteilen und zu bewerten, ist im Falle von Autoritäten nötig. Die Arbeit von Politikern zu kritisieren, ist oft dringend angebracht. Aber mit dem Finger auf ungeimpfte Bürger zu zeigen? Dabei habe ich irgendwie ein komisches Gefühl.

Mir fällt ein, dass ich grundsätzlich gut daran täte, die Welt nicht vorschnell in gut und böse einzuteilen, erstmal genauer hinzusehen. Nach Angaben der WHO gibt es übrigens in allen 43 afrikanischen Ländern zusammengerechnet weniger als 5.000 Intensivbetten. Ein Fakt, der das ewige Wirrwarr um die Betten in einem völlig anderen Licht erscheinen lässt.

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