Demokratische Gesellschaften sind pluralistisch und heterogen, das ist ihr Wesen. Bei den wesentlichen Fragen des Zusammenlebens in einer Gemein­schaft kommt es oft zur Dehnung von Positionen, die in einer Polarisierung gipfelt. Deren Aushandlung ist aber der Motor dieser Gesellschaftsform. In der Corona-Pandemie scheint aus den Fliehkräften der Pole eine tiefe Spaltung hervorgegangen zu sein. Auch wenn es zynisch klingt: Darin liegt auch die Chance, engere Grenzen um unsere Gesellschaft zu ziehen…

Autor

Ralf Hohlfeld

Agentur: Sammlung/Serie: Fotograf: Bildtitel

Foto
Datum

5. Februar 2022

Kategorie
Teilen
Autor

Ralf Hohlfeld

Foto

Demonstration für die Spaltung Berlins: Horst Klein: SLUB Dresden: Deutsche Fotothek

Datum

5. Februar 2022

Kategorie
Teilen

Als zu Beginn der Ampelkoalition im Spätherbst des vergangenen Jahres Bundes­kanzler Olaf Scholz die sich auftuenden Gräben zwischen Geimpften und Unge­impften scholzomatenhaft mit dem Hinweis zugeschüttet hatte, „es gibt keine Spal­tung in unserer Gesellschaft“, waren die politischen Beobachter uneins in der Bewer­tung. Einerseits ist schon lange offenkundig gewesen, dass die Corona-Pandemie seit dem Frühjahr 2020 einen Keil in die Gesellschaft getrieben hat; die Meinungs­forscher haben fein granuliert Zustimmung und Ablehnung zu den Pandemie-Be­kämp­fungs­maßnahmen erhoben und konnten ein differenziertes Bild der bundes­repu­blikanischen Öffentlichkeit hinsichtlich der Pole Freiheit und Sicherheit zeichnen. Die Anhänger der Sicherheit waren dabei übrigens zu jeder Zeit in der großen Mehr­heit. Das Lager der Freiheitsbefürworter war deutlich kleiner, schrumpf­te aber zu keiner Zeit zu einer echten Marginalie zusammen. Andererseits sind spätestens mit Beginn der Impfkampagne die Impfskeptiker und Impfgegner aus dem Schatten der Demoskopie auf die Straße getreten. Die radikalisierte Ablehnung der Pandemie-Politik hatte, nach einem hinsichtlich öffentlicher Widerstände eher ruhigen Winter und einer durch Lockerungen erträglichen Sommerzeit, mit Einsetzen des Herbstes schnell eine neue Qualität erreicht. In der vierten Welle der Virusausbreitung stiegen nicht nur die Fallzahlen, sondern auch die Gewissheit, dass es in unserer Gesellschaft zwei Realitäten, zwei Sphären, zwei Welten gibt: Die eine sieht in der COVID-19-Pandemie eine – individuelle und kollektive – Bedrohung der Gesundheit und folgt den staatlichen Angeboten zum Gesundheitsschutz des Einzelnen und den Maßnahmen zum kollektiven Schutz der Überlastung des Gesundheitssystems. Die andere sieht in der Pandemiebekämpfung und ihren Instrumenten eine massive Beschränkung der individuellen Freiheiten und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Um es auf die Impfung herunterzubrechen: Was dem einen ein kleiner Piks in den Oberarm bedeutet, ist dem anderen ein Habeas-Corpus-Akt.

Die Pandemie offenbart viele Gegeneinander

Die Diskussion über eine Spaltung oder Nicht-Spaltung der Gesellschaft ist von einer Frage überformt, deren Erörterung eine Richtschnur für eine solche Gesellschafts­diagnose vorgeben kann. Sie lautet: Welche Mindestgröße benötigt der kleinere Gesellschaftsteil, damit ernsthaft und angemessen eine Spaltung diagnostiziert wer­den kann? Wer jemals eine Axt in der Hand gehalten hat, um Brennholz für den Ofen zu hacken, weiß, dass im Akt der Spaltung mitunter auch mal zwei unterschiedlich große Scheite entstehen können? Man rutscht etwas ab, und schon ist die eine Hälfte eher ein Span als ein Scheit (ein möglicher Wortwitz ist unbeabsichtigt). Würde man ernsthaft bestreiten, dass es sich um einen Prozess der Spaltung handelt, nur weil dabei zwei ungleich große Teile entstanden sind?

Je länger die Pandemie dauert, je mehr Virus-Varianten die Infektionszahlen zu Wellen oder Wänden türmen, desto tiefer erscheinen die Gräben zwischen regel­konformen Spielern aus dem Team Sicherheit (vulgo: Geimpften) und den Regel­gegnern aus dem Team Freiheit, vielfach deckungsgleich mit dem Status „unge­impft“. Die jetzt stark aufgebrochenen Gräben in unserer Gesellschaft sind indes schon seit Jahren zu beobachten. Es sind mehrerer Gräben, die entlang der Linien „Stadt versus Land“, „Wissenschaft versus Bauchgefühl“, „Faktizität versus Objektivität“, „Schulmedizin versus Naturheilver­fahren“, „empirische Evidenz versus anekdotische Evidenz“, „Klassische Nachrichtenmedien versus Alternativme­dien“, „Egoismus versus Altru­is­­mus“ und schließlich auch „Willkommenskultur ver­sus Fremdenfeindlichkeit“ ver­laufen. Diese vielen kleineren Gräben vereinigen sich derzeit in vielfältigen topographischen Verwerfungen zu einem Grand Canyon, einer riesigen Schlucht, die uns in der Pandemie als tiefgespaltene Gesellschaft entgegentritt.

Gerade in der Frage der Immunisierung gegen das Sars-COV-2-Virus und dessen Varianten wird die Gesellschaft einer Zerreißprobe unterzogen. Von einer lauten Minderheit und einer stummen Mehrheit ist die Rede. Von denen, die die Last der Pandemie tragen und jenen, die sich einen Dreck um die Schwächeren scheren und bei denen man sich nicht sicher sein kann, ob ihnen die Pandemie in ihrem Groll nicht zu pass kommt. Der Jahreswechsel 2021/22 mit seinen Feiertagen hat diese Gegenüberstellungen für fast jeden von uns auch auf die persönliche Ebene verfrach­tet. Der Spaltpilz Impfung hat Freundschaften auf die Probe gestellt, Be­kannt­schaften zerstört und ja, er hat nicht wenige Familien entzweit oder zumindest entfremdet.

Auch wenn nicht außer Acht gelassen werden darf, dass beide Seiten ein grundsätz­liches Recht auf ihre Haltung zur Impffrage reklamieren können, kann man nicht so tun, als stünden sich hier zwei gleich große Gruppen gegenüber – mit gleicher Legitimität. Die Gruppe der Impfwilligen und Regeltreuen repräsentiert eine riesen­große Mehrheit der Gesellschaft: Menschen, die sich in dieser schlimmen Phase einer Pandemie rechtschaffen, redlich, sozial und solidarisch verhalten. Von der Gegenseite werden sie als Mainstream stigmatisiert oder gar als Schlafschafe bezeichnet. Sie dürften rund 80 Prozent der deutschen Gesellschaft ausmachen; es sind Mitglieder der Mehrheits­gesellschaft, Demokraten aus der vernünftigen Mitte der Gesellschaft, die als Staats­bürgerinnen und Staatsbürger das Spektrum der demokratischen Parteien vollständig abdecken und denen Extrempositionen fremd sind. Es ist der große Holz­scheit, der nach dem Hieb auf dem Hackklotz stehen bleibt. Ihnen gegenüber steht eine ver­gleichs­weise kleine Gruppe von maximal 20 Prozent der Gesellschaft, die einem recht verquasten Freiheitsbegriff huldigt. Der Freiheit, sich der Pandemiebe­kämpfung zu verweigern, der Freiheit, durch sein Verhalten andere Menschen in ihrer körperli­chen Unversehrtheit zu gefährden, der Freiheit, durch die potentiell größere Gefahr der Übertragung des Virus andere Menschen in Geiselhaft drastischer Kon­takt­beschränkungen zu nehmen. Der Ratsvorsitzende des Weltärztebunds Frank Ulich Montgomery hat das im Herbst die „Tyrannei der Ungeimpften“ genannt. Natürlich, das weiß auch Montgomery, gibt es Impfunwillige, die die Pan­de­mie-Realität aner­kennen und die sich ansonsten an die Regeln halten. Es sind nicht wenige. Eine Großzahl der Impfgegnerinnen und Impfgegner hat jedoch grund­sätzlich ein Problem damit, den Maßnahmen und Verordnungen der Pandemie­bekämpfung zu folgen; man entzieht sich der Maskenpflicht, erwirbt gefälschte Dokumente, versucht sich den 2G- und 3G-Regeln zu entziehen. Wenn es aber um die zentrale Maßnahme geht, mit der die Pandemie vollständig und zeitnah überwunden werden kann, ist diese Gruppe wieder vereint. Als Span, der vom ursprünglichen Holzscheit abgefallen ist.

Der Ausgangspunkt der individuellen Überlegung zur Frage nach dem Impfen mag gleichermaßen legitim sein, aber in einer Pandemie sind die Folgen derart drastisch und betreffen Leib und Leben von so vielen anderen Menschen, dass es inakzeptabel ist, beiden Gruppen die gleiche Berechtigung zuzusprechen, das jeweilige Verhalten in aller Deutlichkeit in der Öffentlichkeit im Spaziergang zu rechtfertigen. Wären die gesellschaft­lichen Konsequenzen nicht so weitreichend und würde die Impfung gegen das Corona-Virus nicht so weit über den Bereich des Persönlichen hinausragen, herrschte zweifelsfrei moralisch Waffengleichheit. Und nur das würde es in dieser Situation lohnens­wert machen, ohne ethischen Bias nach einer vernünftigen Basis für einen Konsens zu suchen, der die Gesellschaft wieder zusammenführen kann.

Impfunwilligen-Verstehertum ist Ausdruck von „false balance“

Dem ist aber nicht so. Ein solches Impfunwilligen-Verstehertum wäre, wie so häufig in dieser Zeit, ein Ausdruck von „false balance“ – eine nicht statthafte, unangemes­sene Ausgewogenheit der Positionen in der Öffentlichkeit. Das hat die lange schwei­gen­de Mehrheit in den letzten Monaten deutlich gemacht, indem sie – als im Zuge der vierten Welle gewisse Privilegien für Geimpfte in Frage gestellt werden sollten – kundtat, nicht länger willens zu sein, das Narrativ von der Gleichberechtigung beider Positionen zu akzeptieren. Letztlich waren es die Talkshow-Auftritte der Impfun­willigen-Versteher und Achtsamkeitsfanatiker, die zu einer gewissen Radikalisierung der zuvor stummen Mehrheit, zum Aufbrechen der Schweigespirale geführt haben. Diese wollen sich, man sieht es an den Gegendemonstrationen und Lichterketten, nicht länger durch den gekaperten und umgedeuteten Freiheitsbegriff der Impfun­willi­gen drangsalieren lassen. Dass nun auch die vormals verzagte Mehrheit auf die Straße geht, macht einen konsensorientierten Diskurs nicht leichter. Und das muss es auch gar nicht. Im Gegenteil, wie Carolin Emcke in ihrem bemerkenswerten Essay in der Süddeutschen Zeitung erläutert hat. Dort beschreibt sie auf eindrucksvolle Weise, in welche Falle uns die „anbiedernde Geste des Man-muss-die-Ängste-ernst-Nehmens“ führen kann und welche fatale Legitimität mit der „Furcht vor der Spal­tung“ denjenigen zu Teil wird, die tatsächlich nichts anderes wollen als eine Spal­tung der demokratischen Gesellschaft. Nachdem jahrzehntelang die kulturelle und religiöse Pluralität der deutschen Einwanderungsgesellschaft im öffentlichen Diskurs keine vollständige Akzeptanz gefunden habe,

soll nun auf einmal Vielfalt der Meinungen über alles gestellt werden – selbst wenn es sich gar nicht um begründete Einsprüche oder Über­zeu­gungen handelt, sondern um falsche Tatsachenbehauptungen oder antisemitische und rassistische Hetze. Man könnte lachen, wenn es nicht so bitter wäre.

Aus diesem Grund fordert Emcke, „begriffliche und politische Grenzen zu ziehen“, denn eine demokratische Gesellschaft könne nicht bestehen, wenn sie sich in der öffentlichen Auseinandersetzung der dafür notwendigen Instrumente beraube:

Eine demo­kratische Gesellschaft braucht die Fähigkeit zu spalten – sie muss unverhandelbare Gren­zen markieren können, sie muss rationale Standards aus Gründen und Argu­menten verlangen können. Sonst lässt sie diejenigen allein, die an sie glauben und die ihren Schutz brauchen.

Niemand möchte eine Impfpflicht. Aber nur sie wird die Pandemie überwinden

Diese Argumentation basiert zweifelsfrei auf dem Umstand, dass der gerade sichtbare Kulturkampf nicht zentral von der Frage „Impfen oder Nicht-Impfen?“ getriggert wird, sondern dass der harte Kern der Impfgegner vollständig andere Absichten verfolgt. die auf eine Schwächung beziehungsweise Abschaffung der Demokratie und ihrer Institutionen zielen. Die Impfungen sind hier ein Katalysator, der genutzt wird, um die „normalen“ Impfskeptiker mit in diesen Kulturkampf hineinzuziehen, indem man ihnen vorgaukelt, dass eine Impfdiktatur errichtet wird, in der ihnen die „Ausrottung“ droht. Selbstverständlich sind nicht alle Impfgegner automatisch den populistischen und extremistischen Milieus der Antidemokraten zuzurechnen, die Verfassungs­schutz­­präsident Thomas Haldenwang Mitte Januar als Staatsfeinde bezeichnet hat, die nur durch „Verachtung des demokratischen Rechtsstaates und seiner Repräsen­tanten“ verbunden seien.

Der Staatsfeind oder Antidemokrat hat in der Corona-Pandemie ein Eldorado gefunden, das seiner Bewegung und seinen Zielen, einen Systemwechsel herbei­zuführen, dient. Er ist nicht plötzlich erschienen, sondern sucht besonders gerne in Kri­senzeiten immer wieder neue Wirtstiere. Er nährt sich von Egoisten und Mate­rialisten, die Angst um ihr sauer verdientes Geld haben und im Euro eine Subvention wirt­schaftlich schwächerer Länder erblicken. Er nährt sich von der Angst der Xeno­phoben aus meist ländlichen Regionen, die ihre fruchtbare Scholle vertei­di­gen wollen. Er nährt sich von der Skepsis der formal niedrig Gebildeten der Wissenschaft gegenüber. Auch die Unbeirrbarkeit der Esoterik, Anthroposophie und Naturheil­kunde sowie die Abwehrreflexe gegen die Schulmedizin geben dem Antidemokraten Nahrung. Und er speist seine Bewegung aus dem Freiheitsstreben der Menschen aus der Peripherie des Alpenraums. Aber derzeit sitzt er, der eigentliche Spaltpilz, gerade vornehmlich den Impfskeptikern im Genick.

Wenn man angesichts dieses Spaltpotenzials darüber räsoniert, wer von der rund 15 Millionen Menschen großen Gruppe der Impfunwilligen in Deutschland kommu­nikativ überhaupt noch erreich­bar ist, dann ist es wichtig, drei Gruppen zu unter­scheiden: Die Ängstlichen, die Selbst­bewussten und die Aggressiven.

Die erste Gruppe, also die Ängstlichen, die oft einfach nur schlecht informiert sind oder emotionale, phobische Hürden gegen das Impfen aufgebaut haben, kann man möglicherweise noch auf bilateralem Weg erreichen und mit gut aufbereiteten Informationen sowie einem wohlmeinenden Appell an das Solidaritätsgefühl im Einzelgespräch mit Vertrauenspersonen über­zeugen. Mitglieder dieser Gruppe meiden zwar vermehrt den Kontakt mit der Mehr­heits­­gesellschaft und separieren sich zu­neh­mend, wenn es um das Impfthema geht. Aber sie lassen sich in einer Ge­sprächssituation prinzipiell auf den Diskurs ein, was die notwendige Voraus­setzung für eine Verständigung ist. Der Fall des FC-Bayern-Fußballers Joshua Kimmich, der nach einer ungeschickten öffentlichen Begründung für seine Impfskepsis und einer anschließenden COVID-19-Erkrankung andeutete, dass er sich in der Zukunft eine Impfung vorstellen kann, mag hier stellvertretend genannt werden.

Die Anti-Demokraten haben aus der Pandemie eine Infodemie gemacht. Sie spielen ihr Blatt gut. Mit 85% der Bevölkerung kann die Demokratie aber winterfest gemacht werden…

Zur zweiten Gruppe zählen Menschen aus dem Milieu der Anthroposophen, Esote­riker und Naturheilkundler, teilweise auch der Freikirchler, die allesamt von der Über­zeugung getragen werden, das Coronavirus könne ihnen persönlich nichts anhaben. Sie halten sich für gesund und stark. Und sie glauben sich des Virus’ erwehren zu können – mittels gesunden Lebenswandels und Naturheil­kunde. Diese Grup­pe, die von der Persönlichkeitsstruktur schon immer stolz auf ihre Wider­stän­digkeit gegenüber der Obrigkeit oder dem gesellschaftlichen Mainstream war, re­prä­sentiert das Gründungspersonal der Querdenken-Bewegung. Sie neigen zur ein­sei­tigen Informationsaufnahme aus so genannten Alternativen Medien und hängen ver­ein­zelten, pandemiebezogenen Verschwörungsmythen an. Das Problem ist derzeit, dass diese Menschen mittlerweile, mobilisiert durch Messenger-Dienste wie Tele­gram, die Straßen fluten und immer weiter in Richtung der dritten Gruppe, der Aggressiven, der Extremisten driften.

Diese fanden unsere pluralistische, offene Gesellschaft schon immer übel und haben massive Demokratiedefizite. Sie haben sich dem Kampf gegen „die da oben“ ver­schrie­ben; sie bevorzugen das „Wir gegen die anderen“. Sie verachten Eliten, das demokratische Gemeinwesen und dessen Institutionen. Es sind die Rädelsführer der Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen, die Account-Besitzer der einschlägigen Telegram-Gruppen und Telegram-Channels. Sie ermuntern die angestachelten Wutbürger, ihre Verachtung für die Corona-Politik durch sternförmige Spaziergänge zu demonstrieren und feiern sich im Lichte der Selbstwirksamkeit ihrer medial über­reprä­sentierten Protestaktionen, die selten ohne Gewalt auskommen. Anders als die Gruppe der Selbstbewussten ist ihr Weltbild nicht nur von einzelnen Desinfor­mationen und Verschwörungsnarrativen, sondern von kohärenten Verschwö­rungs­ideologien geprägt, die aus dem triadischen Feindbild von Politik, Wissenschaft und Medien bestehen und zudem antisemitisch aufgeladen sind.

So sehr sich diese beiden Gruppen auch in punkto Radikalität unterscheiden mögen: Durch das monstranzartig zur Schau gestellte Narrativ des „Ich-lasse-mich-nicht-bevormunden“ ist bei beiden Milieus unterdessen weder davon auszu­gehen, dass sie prin­zipiell überhaupt diskursfähig sind, noch dass sie sich ohne gesetzgeberischen Druck überzeugen lassen. Also kann man nur versuchen, wenigstens die Minderheit der Ängstlichen und Unterinformierten unter den Impfgegnern noch zum solidari­schen Handeln zu bewegen. Gelingen kann dies möglicherweise durch gut gemachte Mar­ke­­ting-Kampagnen. Auch „bekehrte“ Menschen wie Joshua Kimmich, der inzwi­schen offenkundig seine Meinung geändert hat, können eine Wirkung auf einige Skeptiker haben und einen Teildiskurs in Gang bringen.

Am Ende bleibt als Fazit, dass die Spaltung der Gesellschaft in zwei ungleich große Teile bestehen bleiben wird, da die Anti-Demokraten ihr Blatt gut ausspielen, vor allem in kommunikativer Hinsicht. Wie sie das genau tun, wie sie aus der Pandemie eine Infodemie gemacht haben, soll im zweiten Teil des Essays erörtert werden. Die Polarisierung lässt sich jedenfalls vorerst nicht überwinden, wir müssen sie mittel­fristig aushalten. Für die große demokratische Mehrheit unter uns, ja so leicht ist das, gilt es in den kommenden Monaten, noch ein paar Menschen wieder auf die andere Seite hinüberzuziehen. Mit einer Größenordnung von vielleicht 85 der Gesamtbevöl­kerung kann nicht nur die Pandemie überwunden, sondern auch die Demokratie für die nächsten Jahre winterfest gemacht werden. Wie auch immer die Dimensionen der Spaltung in Zahlen genau aussehen mögen – wir müssen diese Spaltung nutzen, um die Grenzen um den demokratischen Rechtstaat sowie die untrennbar damit verbundene offene und solidarische Gesellschaft für alle sichtbar zu markieren.

Hinterlasse einen Kommentar